Verstaatlichungen in der DDR 1972
Die Verstaatlichungen in der DDR 1972 waren eine zwangsweise Umwandlung von etwa 11.000 privaten, meist familiengeführten klein- und mittelständischen Unternehmen sowie halbstaatlicher Betriebe mit mehr als 10 Mitarbeitern in Industrie, Bau und Handwerk in Volkseigene Betriebe. Sie wurden nach einem Beschluss des Politbüros der SED im Frühjahr 1972 kurzfristig durchgeführt.
Ablauf
Am 13. Januar 1972 traf sich der neue Erste Sekretär des ZK der SED Erich Honecker mit Vertretern der Blockparteien CDU, LDPD und NDPD und sprach mit ihnen über Pläne zur Verstaatlichung der halbstaatlichen Betriebe.[1] Am 8. Februar verabschiedete das Politbüros der SED einen entsprechenden Beschluss zur Verstaatlichung der Betriebe mit staatlicher Beteiligung und der Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH). Am 16. Februar verabschiedete der Ministerrat der DDR einen fast gleichlautenden Beschluss zu „Regelungen für Betriebe mit staatlicher Beteiligung und über Stellung und Aufgaben des Gesellschafters bei der schrittweisen Übernahme der Betriebe in Volkseigentum“, der in seinen Einzelheiten aber geheim gehalten wurde. Danach warben ein Parteitag der LDPD, die Führung der CDU und Bezirksversammlungen der SED für die bevorstehenden Maßnahmen, anfangs mit teilweise falschen Behauptungen über die Freiwilligkeit einiger weniger Komplementäre.
Danach wurden die beabsichtigten Verstaatlichungen rigoros umgesetzt. Die betroffenen Eigentümer wurden darüber kurzfristig informiert.[2] Sie hatten meist nur wenige Tage Zeit, den entsprechend vorformulierten Vertrag zu unterschreiben. Wenn sie einwilligten, konnten sie oft als Geschäftsführer oder Direktoren in ihren Unternehmen bleiben, sie hatten aber nur noch beschränkte Entscheidungskompetenzen. Die Unternehmen wurden nach ihrem Buchwert entschädigt. Das Geld wurde zunächst auf ein treuhänderisches Konto eingezahlt und konnte dann schrittweise abgehoben und verwendet werden.
Betroffene Unternehmen (Beispiele)
- Julius Blüthner Pianofortefabrik, damals Leipzig
- Kathi Rainer Thiele, Halle (Saale)
- Schilling (Glockengießerfamilie), Apolda
- Heinz Bormann (Modeschöpfer), Schönebeck (Elbe)
- einige Buchverlage
- einige Orgelbauunternehmen
- Farbwerke Bannier & Hahnefeld, Cunsdorf, Sachsen
- Artur Kunz, Inhaber von Margon, dann zu VEB Margon
- Gebrüder Müller, Freiberg in Sachsen
- Richard Nagetusch, Karosseriebauer, Dresden
- Richard Berger KG Papierfabrik, Wolkenburg
- M. & P. Händel, Grimma
- C. H. Müller GmbH, Reichenbach in Vogtland
- Schaubek-Verlag
- S.F. Fischer Spiel- und Holzwarenfabrik Oberseiffenbach
- Rudolf Arnold KG, Lampenschirme und Leuchten Meerane (Sachs)
Hinzu kommen tausende in Vergessenheit geratene (Familien-)Unternehmen, die regional tätig und bekannt waren.
Auswirkungen
Am 9. Juli 1972 verabschiedete der DDR-Ministerrat ein weiteres Gesetz über die Umwandlung privater kleiner und mittelständischer Unternehmen in Volkseigene Betriebe. Am 13. Juli 1972 meldete Erich Honecker an den KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew den Abschluss der Kampagne: 11.800 kleine und mittelständische Unternehmen, darunter 6.700 Betriebe mit staatlicher Beteiligung, 3.400 private Unternehmen in Industrie und Bauwesen sowie 1.700 Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) waren verstaatlicht worden.[3][4]
Zusammen erwirtschafteten die enteigneten Unternehmen zu dieser Zeit etwa 15 Prozent der DDR-Industrieproduktion – der Anteil nach der Enteignung ist nicht bekannt, lag jedoch vermutlich darunter.
Seitdem gab es private Kleinbetriebe nur noch vereinzelt im Handwerk und Einzelhandel, zum Beispiel Bäcker.
In zahlreichen enteigneten Unternehmen sank die Wirtschaftsleistung danach erheblich aufgrund der staatlichen Planwirtschaft. Manche von diesen Unternehmen produzierten Erzeugnisse und Dienstleistungen wurden so zu Mangelware oder verschwanden komplett aus dem Angebot.
Für zahllose Unternehmer und deren Familien waren die Folgen in vielerlei Weise weitreichend und stellten einen beispiellosen Bruch in ihren Biographien dar. Oft wurden dabei seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten bestehende Traditionslinien schwer beschädigt oder vernichtet, mitunter verbunden mit persönlich weitreichenden Folgen.[5][6][7][8][9]
Literatur
- Als die DDR das Kommando übernahm: Im Februar vor 50 Jahren wurden 11.800 Privatbetriebe enteignet, in Berliner Kurier vom 7. Februar 2022
- „Sie sind nicht mehr Geschäftsführer“: Als der Staat zum Boss vieler Betriebe wurde, in Hamburger Morgenpost vom 8. Februar 2022
- DDR-Geschichte: Enteignungswelle 1972: Privatbesitz wird Volkseigentum, in Superillu
Weblinks
- Honecker verkündet Abschluss der Verstaatlichungskampagne in der DDR Bundesstiftung Aufarbeitung 2022
- 13. Juli 1972: 50. Jahrestag Abschluss der Verstaatlichungskampagne in der DDR Hessische Landeszentrale für politische Bildung
- Enteignungswelle 1972: Als die DDR die letzten Familienbetriebe verstaatlichte MDR
- Dokumente über die Verstaatlichungen 1972 in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- Funf Fragen an den Historiker Rainer Karlsch Bundesstiftung Aufarbeitung
Einzelnachweise
- Historischer Hintergrund der Enteignungen in der SBZ und der DDR Bundesstiftung Aufarbeitung, von Rainer Karlsch
- Honecker verkündet Abschluss der Verstaatlichungskampagne in der DDR Bundesstiftung Aufarbeitung, mit einigen Informationen
- Historischer Hintergrund der Enteignungen Bundesstiftung Aufarbeitung, von Rainer Karlsch, mit diesen Zahlen
- Als die DDR das Kommando übernahm: Im Februar vor 50 Jahren wurden 11.800 Privatbetriebe enteignet, in Berliner Kurier vom 7. Februar 2022 Text
- Vor 50 Jahren: Honecker verkündet Abschluss der Verstaatlichungskampagne in der DDR Bundesstiftung Aufarbeitung
- Enteignungswelle 1972: Als die DDR die letzten Familienbetriebe verstaatlichte MDR
- Enteignungswelle 1972: Privatbesitz wird Volkseigentum, in Superillu Text
- „Sie sind nicht mehr Geschäftsführer“: Als der Staat zum Boss vieler Betriebe wurde, in Hamburger Morgenpost vom 8. Februar 2022 Text
- Familienunternehmen in Ostdeutschland Familienunternehmen, PDF, 2019