Monozentrische Sprache

Eine monozentrische Sprache ist in der Sprachwissenschaft eine Sprache mit einem einzigen regionalen Zentrum der Standardisierung und dementsprechend einer einzigen Standardvarietät, wie z. B. Japanisch und Russisch.[1] Das Gegenteil ist eine plurizentrische Sprache, wie z. B. Deutsch und Englisch, ein von Heinz Kloss geprägter Begriff.[2]

Entstehungsgeschichte

Der Terminus monozentrische Sprache ist das Pendant zu plurizentrischer Sprache. Plurizentrisch bedeutet, dass eine als „zusammengehörig“ aufgefasste linguistische Einheit, eine Sprache, in unterschiedlichen, mehr oder weniger anerkannten Standards, die sich Zentren zuordnen lassen, untergliedert wird.[3] In der praktischen Diskussion sind diese Zentren in den meisten Fällen Nationalstaaten zugeordnet (z. B. Amerikanisches English und Australisches English), doch es gibt auch, neben Vollzentren (z. B. Österreich für Österreichisches Deutsch) die Idee von Halbzentren (z. B. Südtiroler Deutsch) oder Viertelzentren (z. B. Luxemburger Deutsch).[4] Die Unterscheidung, ob eine neue Standardvarietät nun einen eingeständigen Namen erhält, z. B. Norwegisch und nicht, z. B. „Norwegisches Dänisch“, was nicht passierte, ist eine sozialpolitische und keine vorrangig streng sprachwissenschaftliche Frage.[5] Das Konzept der monozentrischen Sprache ist daher bedingt durch das Aufkommen von plurizentrischen Sprachen. Michael G. Clyne, Pionier der Erforschung plurizentrischer Sprachen, schreibt dazu dass „Plurizentrische Sprachen vereinen Sprecher durch den Gebrauch der Sprache und gleichzeitig trennen sie Sprecher durch die Entwicklung von nationalen Normen und Indizierungen und linguistischen Variablen mit denen sich nur eine Untergruppe von Sprechern identifiziert“.[3] Befürworter einer monozentrischen Sprachauffassung sind daher konservativ im Sinne der ursprünglich Sprachauffassung ausgerichtet – z. B. Niederländisch als grenzübergreifende Sprache und nicht Niederländisches Niederländisch und Belgisches Niederländisch oder Deutsch und nicht Deutsches Deutsch und Österreichisches Deutsch.[6] Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass Vertreter einer monozentrischen Auffassung größere Spracheinheiten betrachten, während Plurizentriker die sprachliche Identifikation von kleineren Gruppen betonen.

Sprachwissenschaftlicher Diskurs

Im Zusammenhang der unterschiedlichen Gewichtung – großer Sprachraum (konservativ) oder kleinere Einheiten berücksichtigend (diversifizierend) – ergibt sich inhärent eine sprachwissenschaftliche Debatte, die sich in jedem sprachlichen Kontext neu formiert. Im Amerikanischen English fand diese Debatte von ca. 1780 bis 1890 statt, wobei um 1850 die amerikanische Standardvarietät im Land als weitgehend etabliert galt.[7] Zeitweilig aber können auch heute noch Vorbehalte gegenüber Amerikanischem English und eine Bevorzugung von Englischem (Britischem) Englisch wahrgenommen werden. So zum Beispiel beschrieb der spätere König Charles III noch 1995 Amerikanisches Englisch als „sehr korrumpierend“ und empfahl, Englisches English als Zielvarietät hochzuhalten.[8] Unangefochten monozentrische Sichtweisen sind heute vor allem bei kleineren, verschriftlichten Sprachen, die nicht mit der sozialen Situation konfrontiert, neuere Standards herauszubilden, anzutreffen, wie z. B. Luxemburgisch, Baskisch oder Albanisch. Doch auch manche kleineren Sprachen, z. B. Jiddisch, werden heute auch plurizentrisch diskutiert, da Forscher die Frage stellen, warum der dominante kodifizierte Standard nicht auf der heute am weitesten verbreiteten hasidischen Varietät, sondern auf Zentraljiddischem, beruht.[9]

Monozentrische Betrachtungsweisen sind, je nach Sprache, unterschiedlich verbreitet. Nach einer vergleichenden Studie werden in Europa heute vor allem Deutsch, Französisch und zunehmend Spanisch wieder vermehrt monozentrisch konzeptualisiert,[10] was auf Widerstand von Soziolinguisten stößt.[11] Die Debatte ist für das Deutsche, rund um Österreichisches Deutsch, am weitesten entwickelt[12][13] und beinhaltet historische Diskussionen um germanistische Grundannahmen und Konstruktionen, die bis auf die Gründerzeit des Faches um 1820 zurückgehen.[14] Dieser Diskurs streift sensible Themen wie wissenschaftliche Hegemonie und Dominanz und wirft monozentrischen Perspektiven „linguistic chauvinism“[9], „erasure“, „epistemische Ignoranz“[6] oder „Hegemonialisierung“[14] der Sprachmodellierung vor. Ein Vorwurf, der kategorisch scharf zurückgewiesen, doch bisher wenig begründet wurde.[15] Laut Rudolf Muhr erzeugen monozentrische Ansätze „Einheit durch Zentralisierung“, während plurizentrische eine andere, eine wohl kleinförmigere, Form der Einheit – „Einheit durch soziale Teilhabe/Gemeinsamkeit“ herstellen.[16]

Literatur

  • Stefan Dollinger. The Pluricentricity Debate: on Austrian German and other Germanic Standard Varieties. Routledge, 2019.
  • Edgar W. Schneider. Postcolonial Englishes. Cambridge University Press, 2007.

Einzelnachweise

  1. Michael G. Clyne: Pluricentric languages. Introduction. In: Pluricentric Languages. Mouton, Berlin 1992, S. 1–10, 3, doi:10.1515/9783110888140.1 (englisch).
  2. Michael G. Clyne: Pluricentric languages. Introduction. In: Pluricentric Languages. Mouton, Berlin 1992, S. 1–10, 3, doi:10.1515/9783110888140.1 (englisch): “The term pluricentric was employed by Kloss (1978 II: 66-67) to describe languages with several interacting centres, each providing a national variety with at least some of its own (codified) norms.”
  3. Michael G. Clyne: Pluricentric languages - introduction. In: Pluricentric Languages. Mouton, Berlin 1992, S. 1: „They unify people through the use of the language and separate them through the development of national norms and indices and linguistic variables with which the speakers identify.“
  4. Ulrich Ammon (Hrsg.): Variantenwörterbuch. de Gruyter, Berlin 2004.
  5. J. K. Chambers & Peter Trudgill: Dialectology. 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 1998, S. 45.
  6. Anneliese Rieger: The struggle for recognition of Austrian German: the exercise of soft power by means of language policies. In: Reglindis de Redder (Hrsg.): "One Size Fits All?" Linguistic Standards in the Media of Pluricentric Language Areas. PCL Press, Graz 2023, S. 241; 246 (pcl-press.org [PDF]).
  7. Edgar W. Schneider: English in the United States. In: Cecil L. Nelson et al. (Hrsg.): Handbook of World Englishes. 2020, S. 38.
  8. Jennifer Jenkins: Global Englishes. 3. Auflage. Routledge, Abingdon 2015, S. 5: „[The Prince of Wales] described American English as "very corrupting" and emphasized the need to maintain the quality of the language"“
  9. Chaya R. Nove: The erasure of Hasidic Yiddish from Twentieh Century Yiddish Linguistics. In: Journal of Jewish Studies. Nr. 6, 2018, S. 111143, S. 113.
  10. Stefan Dollinger: Afterword. In: Marcus Callies & Stefanie Hehner (Hrsg.): Pluricentric Languages and Language Teaching. Routledge, Abingdon 2023, S. 220: „How do French or Spanish departments fare? In this area [pluricentricity], Portuguese departments, followed by English departments, would likely lead the way, with German trailing in last position.“
  11. Rudolf Muhr: Überlegungen zur Errichtung einer eigenständigen „Austriazistik“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Band 139, 2021, S. 125146.
  12. Hermann Scheuringer: Das deutsche als pluriareale Sprache: ein Beitrag gegen staatlich begrenzte Horizonte in der Diskussion um die deutsche Sprache in Österreich. In: Unterrichtspraxis. Band 29, Nr. 2, 1996, S. 147153.
  13. Rudolf Muhr: Zur Sprachsituation in Österreich und zum Begriff „Standardsprache“ in plurizentrischen Sprachen: Sprache und Identität in Österreich. In: Muhr, Schrodt & Wiesinger (Hrsg.): Österreichisches Deutsch: Linguistische, sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. hot, Wien 1995, S. 75109.
  14. Stefan Dollinger: Eberhard Kranzmayer's Deutschtum: on the Austrian dialectologist's pan-German frame of reference. In: Journal of Austrian Studies. Band 56, Nr. 3, 2023, S. 64; 71 ("de-hegemonization" wird eingeklagt): „a "One Standard German Axiom" ... has been so central to conceptions of German that scholars, including those trained by Kranzmayer, have had little reason to look beyond the imago; on the contrary, there have been considerable risks for working with national standard varieties of German“
  15. Alexandra Lenz et al.: Stellungnahme zum Vortrag von Stefan Dollinger. 2021 (dioe.at): „The term and construct of a “One Standard German Axiom” originate from Dollinger (2019). It is to be noted that such an axiom – as Dollinger presents it – does in no way correspond with the linguistic policy stance and scientific conviction of the collaborators and researchers of SFB F60. Indeed, if such an axiom were at its base, the SFB F60’s application for funding would most certainly not have passed the FWF's extensive and multi-stage international review process – including an interim evaluation.“
  16. Rudolf Muhr: Codifying linguistic standards in non-dominant varieties of pluricentric languages - adopting dominant or native norms? In: Rudolf Muhr et al. (Hrsg.): Exploring Linguistic Standards in Non-dominant Varieties of Pluricentric Languages. Peter Lang, Bern 2013, S. 27: „[monocentric vs. pluricentric] The first approach builds unity through centralisation, the second builds unity through social commonality“
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