Wahdat al-wudschūd
Wahdat al-wudschūd (arabisch وحدة الوجود, DMG waḥdat al-wuǧūd ‚Einheit der Existenz‘) war eine theosophische Lehre, die in der Frühen Neuzeit große Popularität unter den Sufis erlangte und auf den andalusischen Sufi und Philosophen Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī (gest. 1240) zurückgeführt wird. Sie wird manchmal als Pantheismus oder „esoterischer Monismus“ erklärt, allerdings werden diese Beschreibungen den Inhalten der Lehre nicht gerecht.[1] Die Anhänger dieser Lehre wurden als Wudschūdīya bezeichnet.
Die Definition bei ʿAbd ar-Razzāq al-Qāschānī
Die wahdat-al-wudschūd-Lehre wurde erst von Ibn ʿArabīs Schwiegersohn, dem persischen Sufi-Philosophen Sadr ad-Dīn al-Qūnawī (1207–1274), ausgearbeitet. Der persische Mystiker ʿAbd ar-Razzāq al-Qāschānī (gest. 1345) erklärte das Wahdat-al-wudschūd-Konzept, wie folgt:
„Damit ist gemeint, dass sich die Existenz nicht in das Notwendige (al-wāǧib) und das Kontingente (al-mumkin) teilen lässt. Denn nach Meinung dieser Gruppe (sc. den Anhängern dieser Lehre) ist die Existenz nicht das, was die Theoretiker der Mutakallimūn und Philosophen darunter verstehen. Die meisten von ihnen glauben nämlich, dass die Existenz ein Akzidens (ʿaraḍ) ist. Vielmehr ist die Existenz, dem sie eine Akzidens-Qualität zuschreiben, dasjenige, wodurch sich die Realität von allem Existenten realisiert. Und das kann nichts anderes sein als der Wahre (al-ḥaqq), erhaben ist Seine Natur. Außerdem hat das als Einheit beschriebene Wesen (ḏāt) zwei Aspekte: 1. den Aspekt des Eins-Seins und des Umfassens der Namen und Realitäten, und das ist, wie du weißt, der Rang der Vereinigung und Existenz (martabat al-ǧamʿ wa-l-wuǧūd), und 2. den Aspekt, dass es identisch ist mit jenen Realitäten, die es umfasst, während die Existenz Ursprung (aṣl) jener Realitäten ist und nach Maßgabe der Sinneskräfte ihr deutlichster Ausdruck ist. So ist die Existenz mit dem Wesen identisch.“
Die Debatte über das Konzept
Einer der ersten Gegner der wahdat-al-wudschūd-Lehre war der hanbalitische Theologe und Rechtsgelehrte Ibn Taimīya (1263–1328). Der indische hanafitische Rechtsgelehrte und Naqschbandi-Sufi Ahmad Sirhindī] (1564–1624) brachte bei seiner Widerlegung dieser mystischen Lehre den Begriff der Wahdat asch-schuhūd („Einheit der Erfahrung“) auf. Seine Kritik an der wahdat-al-wudschūd-Lehre hatte große Wirkung und erschütterte die Sufi-Welt.[3]
Die Zwei Abhandlungen über die Einheit der Existenz (Taqyīdāni fī waḥdat al-wuǧūd) des marokkanischen Sufi-Dichters und Gelehrten Scheich Ahmad ibn 'Adschiba (1747–1809) wurden von Jean-Louis Michon ins Französische übersetzt (Deux traités sur l'unité de l'existence).
Die Position von Schāh Walī Allāh
Auch Schāh Walī Allāh ad-Dihlawī (gest. 1762) befasste sich mit dem Streit zwischen Anhängern und Gegnern der Wahdat-al-wudschūd-Lehre. Ausgangspunkt war ein Traum, den er im Jahr 1731 hatte und in seinem Werk Fuyūḍ al-Ḥaramain beschreibt. Er sah darin eine Menschenmenge. Eine Hälfte davon erging sich in Dhikr und Yād-Dāscht („Konzentration auf Gott“). Auf ihren Herzen erschienen Lichter und auf ihren Gesichtern Frische und Schönheit, und sie glaubten nicht an die Wahdat al-wudschūd. Die andere Hälfte glaubte an die Wahdat al-wudschūd und war mit Kontemplation über die göttlichen Durchdringung der Existenz (sarayān al-wuǧūd) beschäftigt. Auf ihren Herzen zeigten sich Beschämung und Verzagtheit in Anbetracht Gottes, der mit der Steuerung der Welt im Allgemeinen und der Seelen im Speziellen beschäftigt ist. Ihre Gesichter sahen ausgetrocknet aus. Die beiden Gruppen stritten sich und jede behauptete, ihr Weg (ṭarīqa) sei besser als der der anderen. Als sie ihren Streit nicht lösen konnten, wandten sie sich an Schāh Walī Allah, um sein Urteil einzuholen. In einer langen Rede konstatierte er, dass die Wahdat al-wudschūd eine wahre Lehre sei, aber diejenigen, die daran glaubten, sich so sehr in Gedanken über die Immanenz Gottes in der Welt ergingen, dass ihnen die Verehrung Gottes, die Gottesliebe und die Transzendenz Gottes verlorengingen.[4] Die andere Gruppe, sagte Schāh Walī Allāh, sei nicht in der Lage, die Wahrheiten der Wahdat al-wudschūd zu erkennen. Daher sei es keine Überraschung, dass sie die Lehre leugneten. Aber sie verfügten über andere Fähigkeiten, die sie nutzten, um die Wahrheiten zu erlangen, zu denen man mit diesen Fähigkeiten vordringen könne. Es sei ihnen gelungen, sich zu reinigen und das Ziel zu erreichen, für das sie geschaffen wurden.[5] Dieser Traum zeigt das Verhältnis von Schāh Walī Allāh zur wahdat-al-wudschūd-Lehre: Zwar sah er diese Lehre als wahr an, doch meinte er, dass die Wudschūdīs mit ihren Positionen zu weit gingen.[6]
Schāh Walī Allāh meinte, dass sich die Wahdat al-wudschūd „nach dem Geschmack des Philosophen“ (ʿalā ḏauq al-ḥakīm) von der Wahdat al-wudschūd nach der Meinung anderer unterscheide, weil nach Auffassung des Philosophen allem Kontingenten, ganz gleich ob es existent (mauǧūd) oder nur angenommen (mafrūḍ) sei, eine Aktualität (fiʿlīya) und eine Quiddität (māhīya) zukomme. Was die Aktualität anlange, so sei es die Art seiner Bestätigung (taqarrur) und die Form seiner Bewahrheitung (taḥaqquq), und hierdurch unterscheide es sich in sich von dem reinen und einfachen Nichts (al-ʿadam aṣ-ṣirf al-basīṭ). Was die Quiddität anlange, so sei es eine Sache, die die dunkle Einbildung für losgelöst von seiner Bestätigung halte. Durch sie unterscheide sich das Kontingente von der Sache, die ihr entgegengesetzt sei, vor dem Wissen um seine Verbindung mit Gott.[7]
Literatur
- Bakri Aladdin: “Aspects of mystical hermeneutics and the Theory of Oneness of Being (waḥdat al-wujūd) in the work of ʿAbd al-Ghanī al-Nābulusī” in Annabel Keeler und Sajjad Rizvi (Hrsg.): The spirit and the letter: approaches to the esoteric interpretation of the Qur'an. Oxford University Press, Oxford, London 2016, S. 395–414.
- Abdul Haq Ansari: “Shah Waliy Allah attempts to revise waḥdat al-wujūd.” in Arabica 35 (1988) 197–213.
- Abdul Haq Ansari: “Ibn `Arabi: The doctrine of Wahdat al-Wujud” in Islamic studies 38/2 (1999) 149-192.
- S. A. Ali: „The Medinian Letter. An inquiry into waḥdat al-wujūd and waḥdat al-shuhūd and their reconciliation, by Shāh Walīallāh“ in Recherches d'islamologie: Recueil d'articles offert à Georges C. Anawati et Louis Gardet par leurs collègues et amis. Peeters, Louvain, 1977. S. 1–20.
- J.M.S. Baljon: Religion and thought of Shāh Walī Allāh Dihlawī. Brill, Leiden 1986. S. 56–64.
- Józef Bielawski: "Muhyjī ad-Dīn Ibn ‘Arabī, moniste arabe musulman du XII-XIIIe s. et sa conception de l’«Unité de l’etre» – waḥdat al-wuǧūd (ou l’«unité de l’existence»)". 2. Halbbd, hrsg. von Wolfgang Kluxen De Gruyter, Berlin, Boston 1981. S. 738–745.
- Haruka Cheifetz: “Al-Shaʿrānī’s Defence of Ibn ʿArabī in Context: Interpreting ‘the Oneness of Existence’ (waḥdat al-wujūd) as Experiential Oneness” In: Journal of Sufi studies 12/2 (2023) 182-215.
- William C. Chittick: Waḥdat al-S̲h̲uhūd, In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Brill, Leiden 2000 Bd. XI, S. 37b–39b.
- William C. Chittick: WAḤDAT AL-WUJŪD IN INDIA
- William Chittick: “Rūmī and Waḥdat al-wujūd,” in Poetry and Mysticism in Islam: The Heritage of Rūmī Ed. by A. Banani, R. Hovannisian, and G. Sabagh. Cambridge University Press, Cambridge 1994. S. 70–110.
- Ekrem Demirli: “Vahdet-i Vücûd” in Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi Bd. XLII, S. 431–435. Online-Version mit Digitalisat
- Khaled El-Rouayheb: Islamic Intellectual History in the Seventeenth Century: Scholarly Currents in the Ottoman Empire and the Maghreb. Cambridge University Press, Cambridge 2015. S. 312–346.
- Muhammad U. Faruque: “Sufism contra Shariah? Shāh Walī Allāh’s Metaphysics of Waḥdat al-Wujūd” in Journal of Sufi Studies 5/1 (2016) 27-57. https://doi.org/10.1163/22105956-12341282
- Oman Fathurahman: “Itḥāf al-dhakī by Ibrāhīm al-Kūrānī: A Commentary of Waḥdat al-Wujūd for Jāwī Audiences” in Archipel 81 (2011) 177-198.
- Haji-Mohamad Bohari Haji-Ahmad: The ideas of Wahdat al-Wujūd in the poetry of ʿAbd al-Qādir Bīdil (Persian), İbrahim Hakkı Erzurumlu (Ottoman Turkish), and Hamzah Fansuri (Malay). Berkeley, Univ. of California, Diss., 1989.
- Toshihiko Izutsu: Unicité de l'existence et création perpétuelle en mystique islamique. Les Deux Océans, Paris 1980.
- Soraya Khodamoradi: Sufi reform in eighteenth century India: Khwaja Mir Dard of Delhi (1721-1785). EB-Verlag, Berlin 2019. S. 35–53.
- Alexander Knysh: “Ibrahim al-Kurani (d. 1101/1690), an apologist for "wahdat al-wujud"” in Journal of the Royal Asiatic Society 5/1 (1995): 39–47.
- Alexander Knysh: “Waḥdat al-Wujūd” in John L. Esposito: The Oxford Encyclopedia of Islam and the Muslim World Oxford University Press, New York 2009. Bd. V, S. 510–511.
- Hermann Landolt: „Der Briefwechsel zwischen Kāšānī und Simnānī über Waḥdat al-Wuǧūd“ in Der Islam 50 (1973) 29-81.
- Muhammad Bukhari Lubis: The ocean of unity : Waḥdat al-Wujūd in Persian, Turkish and Malay poetry. Dewan Bahasa dan Pustaka, Kuala Lumpur 1994.
- Bülent Rauf: Unterwegs in der Einheit des Seins – Gesammelte Schriften, Chalice, Xanten 2017, ISBN 978-3-942914-23-9.
- Peter G. Riddell: Malay court religion, culture and language: Interpreting the Qurʾān in 17th Century Aceh. Brill, Leiden 2017. S. 21–25.
- Heike Ruhland (Hrsg.): Mysticism in East and West, the concept of the unity of being. Proceedings of the First Loyola Hall Symposium, held on 20-21 february 2013 in Lahore, Pakistan. Multimedia Affairs, Lahore 2013.
- M. Valiuddin: “Reconciliation between Ibn Arabis Wahdat-al-wujud and the Mujaddid's Wahdat-al-Shuhud” in Islamic Culture 25 (1951) 43–51.
Weblinks
Einzelnachweise
- Chittick: Waḥdat al-S̲h̲uhūd. 2000, Bd. XI, S. 37b.
- ʿAbd ar-Razzāq al-Qāšānī: Laṭāʾif al-iʿlām fī išārāt ahl al-ilhām. Ed. Saʿīd ʿAbd al-Fattāḥ. 2 Bde. Dār al-Kutub al-Miṣrīya, Kairo 1995. Bd. II, S. 387f.
- Ansari: “Shah Waliy Allah attempts to revise waḥdat al-wujūd.” 1988, S. 198.
- Šāh Walī Allāh ad-Dihlawī: Fuyūḍ al-Ḥaramain. Maṭbaʿ-i Aḥmadī, Dehli ohne Datum. S. 3f. Digitalisat
- Ansari: “Shah Waliy Allah attempts to revise waḥdat al-wujūd.” 1988, S. 200.
- Ansari: “Shah Waliy Allah attempts to revise waḥdat al-wujūd.” 1988, S. 201.
- Šāh Walī Allāh ad-Dihlawī: al-Ḫair al-kaṯīr Madinat Press, Bijnor 1351h. S. 36. Digitalisat