Paul Kanstein
Paul Ernst Kanstein (* 31. Mai 1899 in Schwarzenau (Kr. Wittgenstein); † 7. September 1981[1] in St. Wolfgang) war ein deutscher Jurist, Gestapobeamter und SS-Führer, zuletzt SS-Brigadeführer im Zweiten Weltkrieg.
Frühe Jahre
Paul Kanstein war der Sohn des evangelischen Pfarrers Heinrich Kanstein. Er studierte nach dem Ersten Weltkrieg Rechtswissenschaft.[2] Nach Studienabschluss trat er in den Verwaltungsdienst ein und war ab 1925 als Regierungsreferendar in Schneidemühl und ab 1927 Kommunaldezernent bei der Regierung in Königsberg tätig.[3] Seit Dezember 1929 war er mit Karin, geborene Jordan, verheiratet. Aus der Ehe gingen vier Söhne hervor: Klaus (* 1933), Peter (* 1935), Dieter (* 1941) und Bernhard (* 1944).[4]
Kanstein trat nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zum 1. Mai 1933 der NSDAP (Mitgliedsnummer 2.306.733)[5][6] und im Juli 1933 auch der SS bei (SS-Nummer 189.786).[6] Er wurde in der Staatspolizeistelle Königsberg tätig und ab Dezember 1934 bei der Staatspolizeistelle Osnabrück.[7] Ab Juni 1935 übernahm Kanstein die Leitung der Staatspolizeistelle Hannover.[2] Von 1936 an, war er in leitender Position beim SD-Hauptamt gelistet. Ab Oktober 1937 führte er die Staatspolizeileitstelle in Berlin und wurde dort im August 1939 in Personalunion zum kommissarischen Polizeipräsidenten bestellt.[8] Von 1936 bis 1939 wurde er drei Mal befördert, was im Vergleich recht ungewöhnlich war. Ab 1939 hatte er bereits den Rang eines SS-Oberführers inne.
Zweiter Weltkrieg
Nach der deutschen Besetzung Dänemarks war Kanstein vom 12. April 1940 bis zum 28. August 1943 „Beauftragter des Auswärtigen Amts für Fragen der Inneren Verwaltung in Dänemark“, so die offizielle Bezeichnung seines Amtes. Er leitete im Stab der deutschen Besatzungsmacht, unter dem Reichsbevollmächtigten im besetzten Dänemark die Sondergruppe der Sicherheitspolizei und des SD.[9] Die genaue Bezeichnung seiner Position war Hauptabteilungsleiter II. Als sein Stellvertreter kam im Mai 1940 Oberregierungsrat Friedrich Stalmann (1902–1980) nach Kopenhagen. Auch dieser stammte aus dem Führungsbereich des Sicherheitsdienstes der NSDAP. Kanstein waren anfangs 25 Kräfte der Sicherheitspolizei, Gestapo und des Sicherheitsdienstes der NSDAP zugeordnet.[10] Von seinem Dienstsitz in Kopenhagen hatte Kanstein in dieser Funktion laut Joachim von Ribbentrop die Aufgabe „die Tätigkeit der Behörden der inneren Verwaltung in Dänemark einschließlich der Polizei und der kommunalen Verwaltungen zu überwachen und besonders darauf zu achten, daß bei allen Maßnahmen der dänischen Behörden die Sicherheit der Besatzungskräfte gewährleistet bleibt.“[11] Das eigentliche Hauptziel bestand in der Erweiterung der eigenen nachrichtendienstlichen Basis für Deutschland durch das dänische Territorium. Mit Kanstein kamen etliche Gestapomitarbeiter nach Dänemark, die geheimdienstlich und fahndungstechnisch unter Abdeckung ihres diplomatischen Status in den deutschen Konsulaten in Odense, Aarhus und Aalborg tätig wurden. Zusätzlich gelangten weitere Angehörige einer „Sondergruppe der Sicherheitspolizei“ nach Dänemark.[12] Das Netz der unter Kanstein eingesetzten Gestapobeamten, Sicherheitspolizisten und Offiziere des Sicherheitsdienstes vergrößerte sich bis 1942 auf über einhundert Personen, die speziell geschult und für diese Positionen ausgewählt worden sind. Im September 1943 versuchten Kanstein und der neue Chef der Sicherheitspolizei in Dänemark SS-Obersturmbannführer Rudolf Mildner, zuvor Chef der Staatspolizeileitstelle Kattowitz und Vorsitzender des „Polizei- und Standgerichts“ der Gestapo im Block 11 des Stammlagers des KZ Auschwitz, die anlaufende Deportation der dänischen Juden zu verhindern. Sie waren nicht grundsätzlich gegen Judendeportationen, sahen jedoch den Kampf gegen die dänische Widerstandsbewegung dadurch beeinträchtigt.[13] Wie auch ihr Vorgesetzter, der Reichsbevollmächtigte in Dänemark Werner Best, waren sie zudem der Auffassung, dass die „Aktion“ praktisch undurchführbar sei, da die jüdische Bevölkerung bereits alarmiert sei und die dänische Polizei mangels Kooperationsbereitschaft als unverzichtbarer Helfer ausfalle.[14]
Kanstein, der im Juni 1942 zum SS-Brigadeführer befördert worden war,[8] wurde nach dem Ende seines Einsatzes in Dänemark zum Regierungspräsidenten in Hannover berufen.[15] Dieses Amt hat er jedoch nie angetreten, da er sich bis Oktober 1943 in Dänemark als Leiter der Abteilung II des Stabes des Reichsbeauftragten vor Ort befand.[16] Er verabschiedete sich in Form einer kleinen Gesellschaft am 19. Oktober in Kopenhagen.[17] Als sein Nachfolger wurde Walter Haensch eingesetzt.
Im November 1943 wurde Kanstein als Chef der Militärverwaltung in Italien eingesetzt;[3][18] und übte diesen Posten ab Januar 1944 noch in stellvertretender Funktion zunächst unter Friedrich Landfried und zuletzt unter Otto Wächter bis Kriegsende aus.[19]
Opposition zum NS-Regime
Kanstein unterhielt ab Herbst 1938 in relativ offener Form Kontakt zum Umfeld des oppositionellen Zirkels um Franz Halder, Erwin von Witzleben, Wolf-Heinrich von Helldorff und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg.[20] Direkt aktiv im Sinne der Zielstellung eines Staatsstreichs wurde er jedoch nicht. Kanstein knüpfte für den ihm gut bekannten Georg Ferdinand Duckwitz 1942 den Kontakt zur deutschen Opposition über seinen Freund Schulenburg und betrieb die Ablösung des Reichsbevollmächtigten in Dänemark Cecil von Renthe-Fink, der schließlich durch Werner Best ersetzt wurde. Auch zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 hatte Kanstein Kontakt, die ihm im Fall eines gelungenen Staatsstreiches die Leitung einer neuen Sicherheitspolizei übertragen wollten.[21] Nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler wurde Kanstein aufgrund seiner Bekanntschaft mit Schulenburg verhaftet und im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – auch von Ernst Kaltenbrunner persönlich – stundenlang zur Sache verhört. Als einziger der Beteiligung verdächtigten SS-Führer wurde Kanstein nicht hingerichtet.[22] Da sich Wilhelm Stuckart erfolgreich für Kansteins Freilassung einsetzte, konnte er auf seinen Posten nach Italien zurückkehren.[23][3]
Nachkriegszeit
Nach Kriegsende befand sich Kanstein mehrere Jahre in alliierter Internierung und wurde nach einem Spruchkammerverfahren mit Schlussbericht von 1949 entnazifiziert. Danach lebte er wieder in seiner Heimatstadt Schwarzenau.
Kanstein war 1947 Autor eines Berichts über Werner Best, in dem er diesen charakterisierte.[24]
Literatur
- Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Teil der Anne-Frank-Shoah-Bibliothek, Karl Blessing Verlag, München 2010, S. 244ff. ISBN 978-3-89667-430-2.
- Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16048-8.
- Maria Keipert (Red.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst. Band 2, Schöningh, Paderborn u. a. 2005, ISBN 3-506-71841-X, S. 471.
- Alf Hentrik Stevensborg: Der Beauftragte. Paul Kanstein, Universität Kopenhagen, Sept. 2016.
- Erich Thomsen: Deutsche Besatzungspolitik in Dänemark 1940-1945, Bertelsmann Universitätsverlag Hamburg 1971.
Weblinks
Einzelnachweise
- Als Todesjahr gibt Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 299 das Jahr 1980 an, wohingegen im Biographischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes. Band 2., G - K. Schöningh, Paderborn 2005, S. 471 als Todesjahr 1981 angegeben wird
- Klaus Mlynek: Gestapo Hannover meldet … Polizei- und Regierungsberichte für das mittlere und südliche Niedersachsen zwischen 1933 und 1937, Band 39, Teil 1, S. 28.
- Jürgen Klöckler: Verhinderter Archivalienraub in Italien. Theodor Mayer und die Abteilung „Archivschutz“ bei der Militärverwaltung in Verona 1943–1945. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Band 86, 2006, S. 491–539, hier S. 519.
- Biographischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes. Band 2., G - K. Schöningh, Paderborn 2005, S. 471
- Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/19230712
- Paul Ernst Kanstein auf http://www.dws-xip.pl
- Gerd Steinwascher: Gestapo Osnabrück meldet …: Polizei- und Regierungsberichte aus dem Regierungsbezirk Osnabrück aus den Jahren 1933 bis 1936, Selbstverlag des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück, 1995, S. 28.
- Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 298f.
- Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Teil der Anne-Frank-Shoah-Bibliothek, Karl Blessing Verlag, München 2010, S. 244ff. ISBN 978-3-89667-430-2.
- Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2009. ISBN 978-3-406-58154-0, S. 143 (dazu Rezension bei H-Soz-u-Kult; Rezensionsüberblick in der Presse bei Perlentaucher).
- Zitiert bei: Fritz Petrick: „Dänemark, das ‚Musterprotektorat‘?“, in: Robert Bohn: Die deutsche Herrschaft in den „germanischen Ländern“ 1940 -1945, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07099-0, S. 124.
- Fritz Petrick: „Dänemark, das ‚Musterprotektorat‘?“, in: Robert Bohn: Die deutsche Herrschaft in den „germanischen “ 1940 -1945, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07099-0, S. 124.
- Hans Kirchhoff, Georg Ferdinand Duckwitz: Die Zeit in Dänemark, in: Auswärtiges Amt (Hrsg.): Zum Gedenken an Georg Ferdinand Duckwitz 1904–1973, Berlin 2004, S. 13–37, hier: S. 26.
- Bo Liedegaard: Die Ausnahme: Oktober 1943. Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, München 2013.
- Michael Rademacher: Preußische Provinz Hannover. Online-Material zur Dissertation, Osnabrück 2006. In: eirenicon.com. Abgerufen am 21. Oktober 2023.
- Alf Hentrik Stevensborg, Der Beauftragte. Paul Kanstein, Universität Kopenhagen, Sept. 2016, S. 25f.
- Werner Best Korrespondenz, Schreiben Karl Ritter an Werner Best 7. November 1943, i John T. Lauridsen & Jakob Kyril Meile (udg.), Band 4, S. 459f.
- Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Bd. 75). Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-82075-6, S. 90–92.
- Maximiliane Rieder: Deutsch-italienische Wirtschaftsbeziehungen: Kontinuitäten und Brüche 1936-1957, Campus, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-593-37136-7, S. 277.
- Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Primus-Verlag, Darmstadt 1996, ISBN 3-89678-000-X, S. 254.
- Auswärtiges Amt: Zum Gedenken an Georg Ferdinand Duckwitz 1904 –1973 (PDF; 555 kB), Berlin 2004, ISBN 3-937570-15-2, S. 17.
- Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, in: Der Spiegel, 13. Februar 1967, H. 7, S. 70.
- Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf - Die Geschichte der SS, Augsburg 1998, S. 497.
- Ulrich Herbert: Best – Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Dietz, Bonn 2011 (5. Auflage), ISBN 978-3-8012-5036-2, S. 225ff.